Wozu Anstand gut ist
- Lynn Blattmann
- 10. Apr.
- 2 Min. Lesezeit

Oft nimmt man etwas erst richtig wahr, wenn es abhanden gekommen ist. So zum Beispiel den Anstand in der Politik und Gesellschaft.
Höflichkeit oder Anstand, das mag etwas nach einer staubigen bürgerlichen Erziehung klingen, und nach Regeln, an die man Kinder ständig erinnern muss: Danke sagen, nicht drängeln, teilen mit anderen...
Wir gehen stillschweigend davon aus, dass Erwachsene wissen, was sich gehört und die Anstandsregeln im Alltag befolgen und anwenden, ja wir vertrauen darauf, dass sie in ihrem Tun immer auch ein wenig Rücksicht nehmen, oder dies zumindest versuchen.
Anstand ist das Gleitmittel unserer Gesellschaft, er führt dazu, dass wir uns alle als zugehörig fühlen, weil wir glauben, dass wir dadurch ein kleines bisschen Raum und Respekt bekommen. Das ist etwa wie in einer Schlange zu stehen, wir vertrauen darauf, dass wir nacheinander zu unserem Recht kommen. Obwohl Anstand in unseren Gesetzbüchern nicht explizit vorkommt, basiert unsere moderne Gesellschaft viel mehr auf Anstand als wir glauben.
Ohne Anstand wird die Welt schnell dysfunktional, wie wir eben in den USA gut beobachten können. "Flood the world with shit", wie Brannon die trumpsche Taktik nennt, fasst diese neue soziale Praxis zusammen.
Jemand, der jeglichen Anstand vermissen lässt, löst erstaunlicherweise aber keinen direkten Widerstand aus, sondern eine seltsame Lähmung. Denn es gibt keine Instanz für die Durchsetzung von Anstand, das ist es, was uns so hilflos macht. Unanständig sein ist nämlich gar nicht verboten!
Anstandsregeln sind veränderbar
Oft verändern sich Anstandsregeln langsam und für viele unbemerkt, so ist es heute auf Autobahnen üblich, dass beim Überholen minimale Abstandsregeln ignoriert werden und Drängeln ist für die gut Motorisierten schon fast schon zum Normalfall geworden. Auch in Städten wie beispielsweise in Zürich ist der Umgang rauher, ungeduldiger, hässiger geworden. Ältere Menschen, die sich erlauben, in Stosszeiten unterwegs zu sein, können von diesen Entwicklungen ein Lied singen.
Kaum jemand getraut sich jedoch, auf krasse Verstösse gegen den Anstand hinzuweisen, nicht mal mit der Lichthupe.
Das war nicht immer so. Noch in den siebziger Jahren fühlten sich ältere Menschen dazu berufen, die jüngeren ständig zurechtzuweisen, weil sie in ihren Augen gegen Anstandsregeln verstiessen. (Rauchen auf der Strasse, lange Haare, laute Musik, kurze Röcke)
Das ist längst vorbei, solche Sachen werden kaum mehr als unanständig angesehen. Interessanterweise hat sich der Diskurs darüber was anständig ist und was nicht, jedoch nicht verschoben, sondern er ist abgestorben. Wir reden einfach nicht mehr darüber. Wir beissen die Zähne zusammen und hoffen, dass Unanständigkeiten rasch vorüber gehen. Damit kommen wir jedoch im Moment nicht weiter. Wir sollten uns ein Herz fassen und reagieren. Wir sollten unsere Meinung sagen, auch wenn es um Anstand geht.
Denn nur in einer anständigen Welt, in der die Menschen Rücksicht aufeinander nehmen, können sich auch Minderheiten wohl fühlen. Nur eine anständige Welt ist eine inklusive Welt.
Und mit einer inklusiven Welt, meine ich eine Welt, in der alle Respekt bekommen und einen adäquaten Raum, auch die Frauen oder die alten weissen Männer, auch wenn dieser in Zukunft für die Frauen aus Fairnessgründen etwas grösser ausfällt und bei den alten weissen Männern etwas beschränkt werden wird.
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