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  • Lynn Blattmann

Helvetia ruft...


Als ich zum ersten Mal in meinem Leben abstimmen durfte, ging es um den Gleichstellungsartikel. Ich erinnere mich noch, wie ich an jenem Sonntagmorgen bleich und mit Bauchkrämpfen meinen Zettel in die Urne warf. Eine Ungerechtigkeit würde auch bei einem Ja bestehen bleiben: Dass Frauen im gebärfähigen Alter einmal im Monat von Bauchkrämpfen oder anderen Formen des Unwohlseins geplagt werden, während die Männer keine solchen Finten der Biologie zu erdulden haben.


Der Gleichstellungsartikel kam 1981 schliesslich in die Verfassung. Einige Jahre später wurde ich politisch aktiv, habe Wahlkämpfe mitorganisiert, Plakate gestaltet und Flyer getextet und mich an politischen Veranstaltungen sogar als Kabarettistin versucht. Dann wurde ich mit sechsundzwanzig Jahren Präsidentin der Grünen der Stadt Zürich und hatte dann nach vier Jahren stärkerer oder schwächerer Überforderungen wenigstens einige handfeste Führungserfahrungen im Rucksack.


Dann wechselte ich das Fach und begann sozialpolitische Konzepte zu schreiben und einen Reorganisationsprozess im Sozialdepartement der Stadt Zürich politisch und kommunikatorisch zu begleiten. Auch das machte Spass. Politische Führung, das wäre was für mich dachte ich, aber dann kam alles anders.

2006 stieg ich erneut um auf ein anderes politisches Thema. Die nächsten 12 Jahre widmete ich mich dem Aufbau einer unternehmerisch geführten Sozialfirma in St. Gallen. Politisch daran war mehr als man denkt. Bei der Sozialfirma ging es darum, Arbeitsplätze für Menschen zu schaffen, die auf dem regulären Arbeitsmarkt nur noch wenig Chancen hatten und von Sozialhilfe leben mussten. Alles musste zwischen öffentlicher Verwaltung (also kommunaler Politik) und Wirtschaftlichkeit austariert werden. Also kam ich selbst in meiner sozialunternehmerischen Tätigkeit nicht von der Politik los.

Ende 2018 habe ich die Sozialfirma verlassen und seit etwas mehr als einem Jahr hat mein Leben kaum mehr mit Politik zu tun. Ich merkte, dass mir etwas fehlte und begann, intensiver Zeitung zu lesen und die politischen Debatten genauer mitzuverfolgen.

Dabei bin ich auch auf Alliance F gestossen, die sich mit der Aktion "Helvetia ruft" für Frauen engagiert, die sich politisch einbringen wollen und sollen.

Mir wurde etwas unwohl als ich durch die Webseite stöberte, die Alliance F zu dem Thema lanciert hatte.

Als Studentin hatte ich mich noch mokiert über die etwas dämliche Aufforderung des Eidgenössischen Büros für die Gleichstellung, das unter dem Slogan "Nehmen Sie Platz Madame" Frauen für politische Ämter motivieren wollte. Ich habe mich damals über den deplatzierten Spruch so geärgert, dass ich eine ironische Gegenkampagne lanciert hatte mit dem Slogan: Machen Sie Platz Monsieur!

Mir schien das Problem nicht darin zu liegen, dass die Frauen sich zierten, politische Ämter anzunehmen, sondern dass die Herren nicht bereit waren, einer Frau Platz zu machen.

Dass sich dies bis heute nicht geändert hatte, wurde mir vor wenigen Wochen nochmals deutlich vor Augen geführt.

Seit ich in Grub SG wohnte, war mir immer wieder zu Ohren gekommen, dass viele Bürgerinnen und Bürger mit der Arbeit unseres Gemeindepräsidenten unzufrieden waren. Sie fühlten sich von ihm nicht ernst genommen und warfen ihm vor, sich zu wenig um die Anliegen der Bevölkerung zu kümmern, arrogant und anmassend zu sein und nur sein eigenes Ding durchzuziehen.

Erstaunlicherweise liess sich aber niemand gegen ihn aufstellen. Die Frist für eine offizielle Gegenkandidatur verstrich und es wurden vorgedruckte Wahlzettel mit nur seinem Namen drauf vorbereitet, was eigentlich nicht zu einer demokratischen Wahl passt.

Es war auch mir nicht in den Sinn gekommen, mich rechtzeitig gegen ihn aufstellen zu lassen, ich hatte viel um die Ohren gehabt im Sommer und die Gemeindepolitik war einfach nicht in meinem Blick.

Obwohl die Frist für einen regulären Wahlkampf längst abgelaufen war, häuften sich bei mir die Bitten von Bürgerinnen und Bürgern, mich doch noch als wilde Kandidatin aufstellen zu lassen.

Ich hatte genug politische Erfahrung um zu wissen, dass so eine Sache ziemlich hoffnungslos war. Dennoch reizte es mich, den Eggersrietern eine Wahl zu geben und dem Gemeindepräsidenten zu zeigen, dass er nicht ganz unbestritten war.

Aus einem Impuls heraus, sagte ich zu und kandidierte wild.

Was dann geschah, war unglaublich.

Ich lancierte meine Kandidatur über eine Webseite, die ich an einem Abend rasch zusammengeschustert hatte. Bereits am nächsten Morgen war das Tagblatt hier für einen längeren Artikel zu meiner Kandidatur.

Obwohl man mich im Dorf kaum kannte, weil ich auswärts gearbeitet habe und lange auch mehrheitlich in Zürich gelebt habe, zeigten die Gruber und die Eggersrieter erstaunliches Interesse an meiner Kandidatur. Meine Webseite wurde in den drei Wochen bis zur Wahl fast 600 mal angeklickt.

Wenige Tage nachdem ich meine wilde Kandidatur bekannt gegeben habe, geschah nochmals ein Wunder: Der bisherige Gemeindepräsident bedauerte in der Zeitung, dass er nicht vorher von meiner Kandidatur gewusst hatte, sonst wäre er gar nicht erst angetreten. Er hätte mir noch so gerne Platz gemacht, dazu zitierte er ein Rücktrittsschreiben, das er im Frühjahr bereits habe eingeben wollen. Aber leider könne er jetzt nicht mehr zurücktreten, weil er ja für seine offizielle Kandidatur eine Wahlannahmeerklärung habe unterschreiben müssen...

Es kam dann wie es kommen musste:

Meine Wahl versank im Konjunktiv. Der bisherige Gemeindepräsident wurde wiedergewählt und vergass, dass er eigentlich hatte zurücktreten wollen.

Am Wahlsonntag wollte ich ihm zu seiner Wahl gratulieren, weil das einfach zur politischen Fairness gehört, aber er schien davon noch nichts gehört zu haben. Er liess mich so lange warten, bis ich schließlich unverrichteter Dinge wieder heim ging. Auch einer Podiumsdiskussion zur Wahl hatte er sich nicht stellen wollen. Er hatte unsere mehrmaligen Anfragen einfach ignoriert.

Auch heute ist es noch nicht so, dass den Frauen, die sich politisch engagieren wollen, ritterlich Platz gemacht wird. Im Gegenteil.

Frauen werden gerne ignoriert, nicht ernst genommen, für wenig qualifiziert erklärt und mit noch weniger Respekt behandelt als männliche Konkurrenten.

Heute wissen wir Frauen dies jedoch. Wir sind erfahrener und schlauer geworden und wir geben nicht so rasch auf: ich bleibe jedenfalls an der Sache noch etwas dran, denn trotz allem hat sie grossen Spass gemacht.

Aber was ruft Helvetia hier eigentlich den Frauen zu?

Ich habe genau hingehört und folgendes verstanden: Frauen, geht in die Politik. Zieht Euch warm an. Gebt nicht auf! Lacht auch mal über Euch und über die anderen und vor allem: seid schlauer als sie denken! Eure Zeit wird kommen!






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