Auch Boomer altern
Ich war lange jung. Zuerst konnte es kaum erwarten bis ich endlich erwachsen war. Ich träumte von einem eigenen, selbstbestimmten Leben und als ich endlich volljährig war, badete ich in den Möglichkeiten, die mein Leben bot. Wenn ich etwas wollte, zog ich es durch. Die Matur auf dem zweiten Bildungsweg, ein Job auf der Redaktion der Studierendenzeitung, das Präsidium der Grünen als in Tschernobyl ein Redaktor schmolz. Mein Leben war spannend, abwechslungsreich, hektisch, politisch.
Das änderte sich auch nach dem Studium nicht. Nach einem Abstecher in die Welt der staatlichen Archive machte ich mich mit einer Freundin selbständig. Allein mit der Arbeit an der Dissertation wäre mir viel zu langweilig gewesen. Unser Büro lag in einem gotischen Saal unweit des Grossmünsters in Zürich, dort lancierten und bearbeiteten wir Projekte, meist für die öffentliche Hand. Als meine Doktorarbeit endlich fertig war, zimmerte ich aus dem Thema eine Eingabe für das 150 Jahr Jubiläum unseres Bundesstaates und konnte daraus unter dem Titel Männerbund&Bundesstaat eine Ausstellung machen, die in der Kornschütte in Luzern gezeigt wurde.
Damals war ich 37 Jahre alt. Atemlos ging mein Arbeitsleben weiter, ab 2006 in St. Gallen in der Sozialfirma Dock Gruppe. Aus einem Standort in St. Gallen wurden in meiner Zeit 13 neue Standorte in sechs Kantonen aufgebaut. Mein Arbeitsleben war ein Parforce-Ritt, aber immer spannend.
Bis dann 2018 plötzlich fertig war.
Damals war ich 58.
Ich verliess die Dock Gruppe weil ich spürte, dass die Zeit des Arbeitsrausches vorbei war, ich hatte keine Lust mehr darauf. Ich suchte mir Aufgaben strategischerer Natur, wollte weniger Termine, weniger Hektik, weniger operative Verantwortung, mehr Zeit für Reflexion. Das war die erste Zäsur in meinem Leben, ich hatte keine Kinder und war nie verheiratet.
Damals verkaufte ich auch unser Segelboot auf dem Bodensee. Damit war die Zeit des Hart-am-Wind-Segelns auch in dieser Hinsicht vorbei.
Dann kam Corona. Ich begann mich mit der Geschichte unseres Essens zu beschäftigen und stellte einen Foodblog unter dem Titel well.off.ch ins Netz.
Die neu gewonnene Zeit verbrachte ich morgens mit Zeitunglesen und abends mit Filmen und Serien. Daneben arbeitete ich wieder an verschiedenen Projekten: Geschlechtergerechter.ch, linno.ch oder an diversen strategischen Mandaten.
Es dauerte einige Jahre bis ich mich von der Idee gelöst hatte, dass nur ein gehetzter Arbeitstag ein guter Arbeitstag ist.
Ich begann zu merken, dass ich den Stress, den ich früher so genossen hatte, gar nicht mehr vertrug und auch nicht mehr suchte. Ich hatte mein Schiff in ruhigere Gewässer gelenkt und vermisste nichts mir schien dass ich älter wurde, das belustigte mich.
Letztes Jahr begann ich mit Krafttraining.
Verwundert stellte ich fest, dass die meisten anderen, die mir mir trainierten in meinem Alter oder älter waren. Mir war eigentlich ganz wohl, ich glaubte angekommen zu sein im neuen Lebensalter. Es gab immer noch viel Spannendes im Alltag, zwei Start-ups, neue Projekte.
Dann fiel ich eine Treppe hinunter und brach mir das Sacrum, also den eigentlich unzerbrechlichsten Knochen unseres Körpers.
Danach funktionierten meine sogenannten Primärfunktionen nicht mehr richtig und ich musste drei Monate mehr oder weniger den ganzen Tag auf der Seite liegen, weil Stehen und Laufen konnte ich nur schlecht, Sitzen gar nicht.
Eigentlich würde man meinen, dass ich mich alt fühlte nach dem Unfall, aber das war nicht so. In der Reha gehörte ich zu den Fitten, das Training zahlte sich aus und mein Kampfeswille war geweckt: Ich wollte wieder Golf spielen können.
Ich ertrug die Schmerzen und genoss die Fürsorge des Umfelds. Ich war gut drauf.
Seit dem Unfall ist ein halbes Jahr vergangen. Ich spiele seit Ostern wieder Golf, ich kann mit Sitzkissen wieder autofahren und ausser beim Sitzen sind sogar die Schmerzen fast weg.
Aber in mir drin ist etwas völlig anders wie vorher. Mein Lebensgefühl ist ganz anders wie letztes Jahr. Es ist wie wenn die letzten Jahre eine Vorbereitung auf den Sturz und auf mein jetziges Gefühl gewesen wären. Obwohl ich im Spiegel in den letzten Jahren immer wieder deutliche Zeichen des Alters zur Kenntnis nehmen musste, schien mein Inneres davon lange unberührt.
Ich machte mir vor, dass es meine Entscheidung gewesen war, beruflich kürzer zu treten. Aber Altern heisst zerfallen, aufgeben, loslassen. Das ist keine Entscheidung, sondern ein Prozess, so sicher wie der Herbst und die Kälte nach einem herrlichen Sommer. Und Elke Heidenreich hat recht, wenn sie in ihrem Buch schreibt, dass das Altern in Schüben vor sich geht.
Manchmal bekommen wir sie erst im Nachhinein, und vielleicht bald gar nicht mehr mit.
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