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Lynn Blattmann

Die Arbeit bin ich


Der deutsche Soziologe mit dem einprägsamen Namen Hartmut Rosa hat gestern in der NZZ einen erhellenden Artikel über Arbeit geschrieben. Unter dem Titel: "In der Arbeit finden wir die Welt" denkt er darüber nach, warum Arbeit nicht entfremdend wirkt, sondern uns im Leben verankert. Reproduktive Tätigkeiten wie Kinder aufziehen, Reinigen, und Aufräumen gehören für ihn ebenso zum menschlichen Tätigsein wie bezahlte Arbeiten. Es ist unser Tun, das uns mit dem Eigentlichen, der Welt und damit mit dem Leben verbindet.

So wird verständlich, warum uns das Arbeiten so wichtig ist. Arbeiten ist viel mehr als nur Geld verdienen, es ist das, womit wir eine Resonanz in der Welt erzeugen können. Wir möchten etwas bewegen, bewirken, verändern in unserem näheren oder weiteren Umfeld. Unser Dasein soll Spuren hinterlassen. Diese müssen nicht epochal sein, aber für andere wahrnehmbar. So kann unsere Arbeit darin bestehen, dass wir unsere Eltern betreuen und die Familie zusammenhalten, oder dass wir eine neue Maschine erfinden, einen Roboter programmieren oder an einem Schalter Kunden bedienen. Immer lösen wir mit unserem Tun kleine Veränderungen aus, die wir selbst gestalten und prägen. Die Wirkung davon zu spüren, macht uns zufrieden.


Pensionierung als Zäsur

Diese Wahrnehmbarkeit des eigenen Tätigseins hat ein Ende, wenn jemand in den Ruhestand eintritt. Viele erleben den Wegfall ihrer Arbeit als schmerzhaften Verlust, sie können sich nicht abfinden mit einem Leben, das einem endlosen Wochenende gleicht. Andere schliessen ihre aktive Zeit erleichtert ab und geniessen die Unbeschwertheit ihrer neuen Resonanzlosigkeit, die heute unglaublich lange dauert. Bei einer Lebenserwartung von 81.7 Jahren bei Männern und bei Frauen von 85.4 Jahren können Frischpensionierte heute von über 20 arbeitsfreien Lebensjahren ausgehen, wovon im Schnitt rund 15 Jahre unbelastet sind von stark einschränkenden Altersgebrechen oder Krankheit.

Darum ist es für viele nicht nur eine sozialpolitische Notwendigkeit, dass sie ihr Arbeitsleben nicht mit 65 Jahren beenden, sondern es ist ihr Herzenswunsch, die Arbeit länger ihr Leben integrieren zu können.

Mit den Argumenten von Hartmut Rosa im Hinterkopf ist auch nachvollziehbar, dass ein garantiertes Grundeinkommen für die Betroffenen keine Lösung sein kann. Menschen von der Arbeit abzukoppeln und sie quasi schon in jungen Jahren auf Rente zu setzen, entfremdet sie von der Welt und von ihrem Lebenssinn. Dies kann weder im Sinne der Betroffenen noch der Gesellschaft sein.


Unsere Arbeitswelt verändert sich im Moment stark, dennoch bildet unser Tätigsein auch in Zukunft den Kern unseres Miteinanders. Wie wichtig uns das Soziotop der ArbeitskollegInnen ist, wissen wir spätestens seit dem Home-Office Hype. Fühlten sich früher viele im Büroalltag entfremdet und sehnten sich nach mehr Selbstbestimmung, sind heute Büroarbeitsplätze gefragter als das einsame Arbeiten zuhause. Auch die Anforderungen am Arbeitsplatz haben sich in den vergangenen Jahren vielerorts verändert. Oft ist heute nicht nur unser Fachwissen gefragt, sondern auch unsere persönlichen und menschlichen Fähigkeiten, das bedeutet, dass wir uns heute noch umfassender in die (Arbeits)-Welt einbringen können, wir bilden Resonanz mit unserer ganzen Persönlichkeit und unseren Fähigkeiten.


Arbeitslosigkeit als Ausschluss eines sinnstiftenden Lebens

Arbeit ist ein zentraler Teil unserer Vorstellung von Sinnproduktion, darum möchten wir sie aus unserem Leben immer weniger wegdenken.

Was dies für Menschen bedeutet, die den Anforderungen unseres Arbeitsmarktes nicht genügen können und die für ihr Tätigsein keine zufriedenstellende Resonanz finden können, ist klar: Sie fühlen sich von der Gesellschaft nicht nur ausgeschlossen, sie sind es auch.


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