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  • Lynn Blattmann

Figur und Freiheit



Wenn Sie als Frau einen Bauchumfang von über 81cm haben (Männer 94cm), überschreiten Sie eine kritische Grenze. Ab da steigt das Risiko für Diabetes massiv an, wenn Sie auch noch ein bisschen rauchen und ihnen Sport am TV besser gefällt als im Trikot, dann bröckelt die Solidarität der Anderen mit Ihnen. Sie werden quasi als potentieller Parasit angesehen, der auf Kosten der anderen krank werden könnte. Wenn Sie nun partout nicht abnehmen und sich auch nicht in Sportkleidung zwängen wollen, wird das teuer, denn Sie bezahlen die höchsten Prämien und fallen im Ansehen. Übergewichtige Nichtsportler sind in unserer Gesellschaft heute etwa so attraktiv und gutgelitten wie Fusspilz. Das war nicht immer so.


Noch vor wenigen Jahren waren die Dinge klar, es gab einen Sozialstaat, der dazu beitrug, dass die Armen gesünder und besser ausgebildet wurden. Es wurden alkoholfreie Getränke postuliert, der Schulsport und regelmässige Ferien wurden eingeführt. Und siehe da, die Menschen wurden gesünder. Der Wohlstand und das Bruttosozialprodukt stiegen an.

Damit kam das Zeitalter der Sozialversicherungen. Es begann mit der AHV nach dem Zweiten Weltkrieg, später wurde die Arbeitslosenkasse, die Krankenkasse und die Zweite Säule obligatorisch. Heute sind wir gegen alle sozialen Gefahren gut versichert.

Mittlerweile hat sich aber unsere Gesellschaft stark verändert.

Uns geht es zwar viel besser, aber die Prämien für die Versicherungen werden für viele zu einer grossen Last. Namentlich die Krankenkasse reisst wüste Löcher in unsere Budgets. Die Gründe für die explodierenden Gesundheitskosten sind jedoch so komplex, dass viele nach einfachen Lösungen suchen. Übergewichtige fallen auf und man liest ja jeden Tag in der Zeitung, dass Fett nicht gesund sein kann, da liegt es doch nahe, die Fetten zu den Schuldigen zu machen. Ausserdem wollen diejenigen, die sich wöchentlich zweimal im Fitnesszentrum abrackern, etwas davon haben, sie wissen ja nicht, ob am Ende die Genussmenschen nicht doch ein schöneres Leben haben.


Durch diese Entwicklung geraten wichtige soziale Errungenschaften in die Schieflage. Die Sozialversicherungen sind solidarische Einrichtungen, sie funktioneren nur, weil sich alle nach einem möglichst gerechten Schlüssel finanziell engagieren und weil alle nach Bedarf davon profitieren können. Wenn plötzlich die gutausgebildeten flexiblen Gutverdiender weniger Abgaben an die Arbeitslosenkasse bezahlen, weil sie statistisch weniger arbeitslos werden, würde die Arbeitslosenversicherung in Schieflage kommen. Genau das geschieht jetzt aber in der Krankenkasse und darunter leidet nicht nur die gesellschaftliche Solidarität zwischen den Gesunden und den Kranken, sondern es wird auch die individuelle Freiheit beschnitten.

Menschen sind unterschiedlich, es gibt kleine, grosse, dicke, dünne, Fleischfresser und Gemüseliebhaber, es gibt Abstinente, Säufer und solche, die ohne Drogen nicht leben wollen.

Die Vorstellung, dass nur eine Lebensform, die auf Gemüse, viel Bewegung und wenig Stress beruht, gut sein kann, passt nicht in eine komplexe und freie Welt. Churchill wäre nicht Churchill gewesen, wenn er statt Steaks nur Gemüse und statt Champagner und Whisky nur Smoothies getrunken hätte. Ich will nicht behaupten, dass er kerngesund war, aber er wurde immerhin 91 Jahre alt und sein Anderssein, seine sture unverwüstliche Natur, hat Geschichte geschrieben. Ich möchte hier seine berühmte Antwort auf die Frage nach dem Geheimnis seines hohen Alters nicht zitieren, aber ich finde, es soll jeder und jede die Freiheit haben, so zu leben wie er oder sie will.

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