- Lynn Blattmann
Ute Frevert: Die Politik der Demütigung
Die Historikerin Ute Frevert untersucht in ihrem neusten Buch die Demütigung nicht als privates Phänomen mit seinen Auswirkungen auf das Individuum, sondern als politische Praxis, also als gewollte und orchestrierte Form der Beschämung vor Publikum. Die bekannte Kultur- und Sozialhilstorikerin, die sich seit Jahren mit der politischen Relevanz von Gefühlen beschäftigt, beschreibt und analysiert dafür Schauplätze von Macht und Ohnmacht, wie Ihr Werk im Untertitel heisst. Und zwar im Zeitraum zwischen 1750 und heute.
Frevert holt das Thema vom Privaten ins Politische. Sie belegt anhand von unzähligen Beispielen die zerstörerische Relevanz von Demütigung als sozialer Praxis. Verblüffend ist sowohl die Ähnlichkeit als auch die Vielfalt des Repertories an derartigen Inszenierungen im historischen und kulturellen Vergleich. So führt sie die Leserin in die Mechanismen des Prangers, ein. Sie beschreibt das "Stehen am Pranger" als eine Form der leibhaften gesellschaftlichen Zusatzstrafe, die von Europäischen Gerichten bis in die Mitte des 19. Jahrhunderts verhängt wurde. Der Pranger wurde vom Publikum oft und gerne als Lizenz zum Anspucken und Verhöhnen angenommen. Nach der Abschaffung dieser körperlichen Demütigung kamen die Massenmedien, die mit ihrer Berichterstattung Einzelne vor noch grösserem Publikum demütigen konnten. Und schliesslich folgte in unserem Jahrtausend die Verlagerung der Schauplätze in die sozialen Medien. Hier gibt der Staat seine aktive Mittäterschaft (scheinbar) auf, die Erniedrigung und Verhöhnung wird im Internet von anonymen Individuen vorangetrieben.
Freverts Werk bietet schieren Lesegenuss. Da ist die bei Historikern so selten gewordene gepflegte Sprache ebenso zu nennen wie die Fülle und die Breite der aufgeführten Beispiele, die sehr anregend zu lesen sind und die bei der Lektüre neue Fragen aufwerfen.
Offene Fragen
Die FAZ hat sicher recht, wenn sie nach der Lektüre des Buches mehr wissen will zu den Hintergründen des aktuellen Shifts der Praxis der Demütigung in die sozialen Medien und ins Internet.
Es ist interessant, dass im Internet der Staat bei den Demütigungspraktiken heute offiziell nicht mehr mitmischt und die öffentlichen Demütigungen damit wieder zu einer modernen Form der Selbstjustiz werden. Dennoch tauchen heute im Internet vermehrt gewählte Staatsvertreter persönlich als Demütiger auf (z.B. Trump auf Twitter) und die Geheimdienste fremder Staaten entdecken gerade die Demütigung in sozialen Medien als wirksames politisches Agitationsmittel. Zu diesem Thema gäbe es garantiert noch viel zu sagen. Die Antwort auf diese Fragen müsste jedoch nicht von einer Historikerin, sondern eher von einem Soziologen oder einem Politikwissenschaftler geschrieben werden.
Ohne Rückendeckung oder stillschweigende Billigung des Staates und seines Machtapparates funktionieren Strategien der sozialen Demütigung nicht. (U. Frevert in NZZ vom 4.1.2019)
Comments